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Statt der erhofften bunten Wegweiser begegneten wir nur einem einsamen, betrunkenen Wodkahändler, der sein Geschäft von der Motorhaube seines alten Ladas aus betrieb. "Kazantip? - Ahahaha." Vage deutete er geradeaus. Nach halbstündiger Fahrt durch absolute Dunkelheit plötzlich: nein, kein liebevoll gemaltes Hinweisschild, wie es bei westeuropäischen Open-Airs der Fall wäre, sondern ein vom Zigarettenriesen Philip Morris hingestelltes Zigarettenwerbeplakat. "Kazantip raucht L&M." Vor dem Eingang standen weitere Alkoholhändler: Aus Plastikkanistern wurde Selbstgebrautes angeboten, in kleinen alten Büdchen gab es Wasser, Wodka und Bier, an Ständen wurde Reis mit Fleisch verkauft, der kleine Teller verhältnismäßig überteuert.
Beim Check-in wurde jeder Besucher digital fotografiert, das Foto per Barcode auf seinem "Visum", einem Plastikausweis, gespeichert. Das Foto erschien nun bei jedem Betreten des Geländes auf den Monitoren der Securities, die allesamt in alten James-Bond-Filmen als die bösen Russen durchgegangen wären. Für 60 Euro, mehr als einen halben lokalen Monatsverdienst: Eintritt in das hermetisch abgeriegelte Kazantip-Areal, groß wie elf Fußballfelder, mit acht über Wege und Sand verbundenen Dancefloors, alle mit viel zu lauten Boxen und 80er-Jahre-Lichtshow. Die Frauen mit den großen Buchstaben auf ihren dunklen Brillen setzten den elektronischen Rhythmus wie gelangweilte Thai-Bar-Girls in Bewegung um. Dazu trugen sie den typischen "Ich bin ein toter Fisch und taue erst ab 250 Dollar auf"-Gesichtsausdruck zur Schau und waren keine angenehmen Zeitgenossinnen, vor allem weil sie einfache Kommunikationsversuche (die wir in sieben Sprachen anstellten) nur mit "Njet. Russki." und einem höhnischen Lachen ob unserer fehlenden Russischkenntnisse beantworteten. Ein russischer Bekannter in Berlin erklärte mir, die intensive Ignoranz oder auch gefühlte Fremdenfeindlichkeit der jungen Generation sei historisch begründet, eine Folge des Zweiten Weltkriegs.
Die spektakulärste Bühne, von Wasser umspült und nur per Steg zu erreichen, war eine aus Gerüstbaustangen und Holzplanken zusammengeschraubte Disco, an deren Seite extrem werbewirksam Riesenplakate des neuen Energy-Drinks aus der Coca-Cola Factory hingen. Es war unmöglich, ein Foto vom Strand zu machen, ohne die Werbung mit abzulichten. Coca-Cola lässt grüßen: Alle Stände und Bars dürfen nur Bonaqua verkaufen, für 10 Griwna (gut 1,60 Euro) die 0,3-Liter Flasche - und das in einem Land, in dem 600 Griwna Monatsdurchschnittslohn sind und wo man im Supermarkt 5 Liter für 4 Griwna bekommt. Wir erfuhren auch, dass man als Normalsterblicher bis zu 5.000 Dollar für die Miete eines Standes auf dem Festival zahlen muss, während die besten Bars und Restaurants vom Veranstalter direkt an die Familien der lokalen politischen Elite gehen, natürlich mietfrei. Was stand doch im Internet? "Die Republik Kazantip ist ein Staat, in dem nur einige Leute arbeiten: der Präzident und die Regierungsmitglieder. Wie es den Staatsdienern gebührt, denken sie viel nach, machen die Wangen dick, treffen Entscheidungen, teilen eigene Portefeuilles und das Volkseigentum unter sich auf. Sie benutzen teure Autos und leben im weißen Haus." Wie töricht westlich von uns, diese Wort für verspielte Ironie zu halten. Kazantip, ein Haifischbecken.
Überall trifft man auf Miliz in Uniform und Zivil, Letztere meist in Beige und Hellblau. Nach dem ersten Schock über die kommerzielle Ausrichtung und den Moskauer Beach-Schick, der hier zur Schau getragen wird (Miniröcke und Hotpants mit Bikinioberteilen und sehr viel Schminke), beschlossen wir, die 10 Dollar für den bewachten Parkplatz zu sparen und auf einer Wiese direkt vor dem Gelände zu campen. Es sollte vier Tage dauern, bis die Miliz uns dreimal an einem Tag kontrollierte und aggressiv verwarnte. Am nächsten Morgen wurden wir von fröhlich plappernden Ziegenhirten im Rentenalter geweckt, auf deren Müllplatzweide wir unwissentlich unser Lager aufgeschlagen hatten. Keine Verwunderung, keine Fragen; in den mehr als zehn Jahren, die das Festival läuft, scheinen sich die Einheimischen an alles gewöhnt zu haben. Ein Datschenbesitzer ließ uns in seiner Laube duschen. Wir gaben ihm ungefragt jeder 10 Griwna. Ein erstes ukrainisches Lächeln.
Bei Sonnenschein wirkte das Festivalgelände sehr viel trister als bei Nacht: Der riesige Triumphbogen, das Eingangstor mit Videoüberwachung, sah aus wie ein schlechter Disneyland-Entwurf. Es gab drei Duschen und neun Toiletten der alten französischen Art, vor denen die Schlangen immer deutlich länger waren als vor den Bars. Kein Wunder: Wer beim Pinkeln aufs Gelände erwischt wird - und das ist wegen der vielen Milizen ziemlich wahrscheinlich -, zahlt 50 bis 100 Griwna. Das zumindest erzählt uns Uli, 31, den wir am Strand treffen, ein wohnungsloser ehemaliger Lkw-Fahrer aus Deutschland und Traveller aus Überzeugung. "Ich hab mein Hartz-IV-Geld genommen, bin mit dem Bus für 92 Euro nach Kiew gefahren und dann für 30 Griwna mit dem Zug nach Kazantip." Uli hat hier unter TÜV-unmöglichen Bedingungen beim Aufbau der 11 Meter hohen Dancefloor-Kuppel aus undekorierten Gerüststangen gearbeitet, für 8 Euro und zwei Mahlzeiten pro Tag. Die 60 Euro Eintritt zog man ihm, der nach Partybeginn noch eine Woche neben dem DJ-Pult unter der von ihm gebauten Kuppel schlafen durfte, vom Lohn ab.
Hätte er doch bloß an den gelben Koffer gedacht! Wer sich nämlich bis zum 16. Juli online registrieren lässt und mit einem gelben Koffer anreist, darf traditionell umsonst auf die Party. Dafür muss man allerdings immer den Koffer dabeihaben und vorzeigen, denn ein "Visum" erhalten diese Gäste nicht. Theoretisch ist das eine schöne Idee, um auch ärmere Kids teilnehmen zu lassen, in der Praxis ist es vor allem ein cleverer Marketingtrick von "Präzident" Nikita, denn die Kids sind oft tagelang unterwegs und laufen so schön Werbung für das Festival. Anders die reichen Moskowiter und Petersburger, die hier nächteweise einfliegen: Für hässliche ältere Männer in Begleitung schöner, auf "Ich bin zu kaufen" gestylter Frauen ist die Reise zum Kazantip ein beliebter Wochenendspaß.
An Kontaktaufnahme mit uns Westlern war immer noch niemand interessiert - nur die anderen Westler, die mit Kazantips in Hamburg lebendem "Außenminister" Sergej pauschal hier angereist waren. 500 Euro kosten "Visum" und Unterkunft mit kalter Dusche für Deutsche und Österreicher, nicht eingerechnet der Flug für 365 Euro. Vor den Toren gab es gleichwertige Datschen und Häuser schon für 10 Griwna, aber auch Zelte auf Innenhöfen für 20 Dollar, wie mir ein älterer amerikanischer Computerspezialist erzählte. Er sei wegen der Schönheit der Mädchen hier, sagte er. Dass die Mädchen nur auf sein Geld beziehungsweise einen kostenlosen Rausch aus sind, schien ihn nicht zu stören. Frank, 24, VWL-Student, ganz gut anzuschauen und Mitglied in einer schlagenden Verbindung, war da schon kritischer. Er hatte ein Mädchen fast im Bett, als sie ihm unbedingt eine Ecstasy-Pille für 25 Dollar verkaufen wollte. Als er wiederholt ablehnte, lief sie weg. In der nächsten Nacht ließ er sich von einer zuckersüßen 17-Jährigen überreden, zwei kleine Becher Alkoholgemisch - angeblich Absinth mit einem Tropfen Benzin - für 100 Griwna zu kaufen, das sie beide tranken. Er, gestandener Raver und in allen synthetischen Drogen erfahren, war nach diesen 2 cl nicht mehr in der Lage, geradeaus zu laufen oder verständlich zu sprechen. Stundenlang schrie und lachte er hysterisch. Aus Verzweiflung, weil die Kleine sofort nach Genuss verschwand? Auch am nächsten Tag bezahlte er einer Minderjährigen ihren Vollrausch, sie wollte dann auch mit ihm schlafen, doch dass sie weder küssen noch ein Kondom benutzen wollte, ließ nun ihn weglaufen.
Laut dem deutschen Aktionsbündnis gegen Aids weiß nur eines von zehn ukrainischen Mädchen, wie man sich vor HIV schützt. Und nur dreißig Prozent bestehen beim Sex auf Kondom. Nach allem, was man auf dieser Party hörte, schien sich aber niemand aus dieser safen 30-Prozent-Gruppe nach Kazantip verirrt zu haben. Eine 20-jährige Studentin aus der einzigen öffentlich am Strand kiffenden Clique, die sich bestens mit allen im Umlauf befindlichen Drogen und ihren Preisen auskannte, erklärte uns auch, wieso: Aids haben doch nur die Junkies!
"Spritze" heißt hier "Spritz". Und auch die gab es auf Kazantip zuhauf: Direkt an der Haupttanzfläche und an der Gokartbahn (zehn Minuten für 5 Euro) fanden wir sie im Sand. Ein Schuss Heroin mit irgendwas sollte nur 3 Dollar kosten, während Amphetamine, Pillen und Gras zu 20 bis 25 Dollar pro Gebrauchseinheit verkauft wurden. Wer beim Konsum oder Besitz erwischt wird, erzählte uns das Mädchen, könne mit Prügelstrafe, der Abnahme seines gesamten Bargeldes und des Mobiltelefons sowie einem gruseligen Verhör rechnen. Da schon kleine Drogenvergehen mit drei bis fünf Jahren Gefängnis geahndet werden, zahlt jeder Erwischte die 200 Dollar Schmiergeld für das Ticket in die Freiheit gerne. Ab sofort hatten wir Angst vor dem Strand und seinen im Sand verborgenen Nadeln. Das überwiegende Technogewummer der - übrigens unbezahlten! - DJs wurde zu eintönig. Und überhaupt: Quallen, Mücken, Fliegen und schwarze Käfer im Sand sind fast so unsympathisch wie Abzock-Partymacher (Nikita macht an die sechs Millionen Dollar pro Festival und verbringt die Winter auf Goa). Nach vier Tagen in der "freien Republik" Kazantip reisten wir mit Erleichterung im Herzen wieder ab.
Auf dem Rückweg war das Kleinstadthotel, in dem wir übernachten wollten, überfüllt. Wir parkten davor und gingen mit einer Babuschka, die uns Quartier für 10 Griwna pro Person anbot. Wir trauten uns, auf dem ersten unbewachten Platz zu parken, in der friedlich wirkenden Kleinstadt, direkt vor dem großen Lenin-Denkmal und dem Hotel. Morgens um halb sieben weckte uns die Babuschka aus dem Schlaf: Auto geknackt! Die Kühlschrank-Herd-Sonderanfertigung, die Gasflasche, alle Kochtöpfe und Pfannen und zwei Radios waren weg. Unser nagelneues Hackebeil, ein großer Wert in diesem Land des Eisenmangels, steckte in Omachens verstecktem Vorgarten, direkt vor unserem Gästezimmer.
Die Polizei war zuvorkommend und engagiert, sie rückte frühmorgens mit sechs fotografierenden und Fingerabdrücke sammelnden "Ekspert" an und nahm uns sehr ernst. Das Spurensicherungslabor, das wir besichtigen durften, war ein verstaubtes Büro, in dem allerlei Beweisstücke mit Klammern an Wäscheleinen baumelten.
Die wunderschöne Landschaft der Transkarpaten in der Nordwestukraine, das Bad in Gebirgsbächen und die schönen, ärmlichen Bauernmärkte mit endlich lächelnden Menschen auf der Rückreise über die Slowakei und Tschechien entschädigten ein wenig für alles, was wir in diesem armen Land im Umbruch auf die falsche Seite sehen und erleben durften.
JASNA ZAJCEK, 32, liebt Festivals aller Art, und noch keines hat sie so verstört wie dieses
Quelle: http://www.taz.de/pt...51.1/text.ges,1